Herr und Frau K. ziehen die Schuhe aus. Sie wollen den Sand und die kleinen Steinchen unter den Füßen spüren, während sie die anderen Sinne von dem weiten Blick über den Strand, das Meer und den Horizont verwöhnen lassen.
Beide haben den eigenen, aber auch den gemeinsamen Zenit bereits überschritten und haben ein halbes Leben lang Seite an Seite in eine Richtung geschaut, wie auch jetzt an dem hellen Sommertag am Meer. Während Frau K. ihre Finger in der Hand Ihres Partners drückt, sagt sie:
“Das ist Glück. Dieser Moment fühlt sich an wie Glück.“
Schweigend gehen beide weiter an dem nicht enden wollenden Strand einem Horizont entgegen, der nicht näher zu kommen scheint .
Dann sagt Herr K.:“Ja, das ist ein Augenblick gemeinsamen Glücks, der so sanft verfliegt wie die Möwe über dem Meer. Doch je älter ich werde, um so mehr erlebe ich neben den Momenten und Augenblicken des Glücks wie diesem auch etwas anderes, eine Art Glück der Geschichte, an der die einzelnen Momente aufgehängt sind wie an einer Glückskette. Und jeder neue Augenblick wird ein weiterer Glücksmoment an dieser Lebensleine.“.
Frau K. denkt über die Glückskette und Lebensleine nach uns sagt schließlich: “Stimmt! Früher war für mich Glück immer nur Glück des einzelnen Momentes, jeder Kuss, jeder Sonnenuntergang, jedes Weihnachtsfest, jeder Tanz in der Disco, alles war nur für den einen Moment lebendig und gültig, weil die Zukunft und das Leben so unendlich schien wie dieser Strand. Aber je älter ich werde, desto mehr empfinde auch ich neben den einzelnen Momenten auch wie Du ein Glück der Geschichte, das immer länger und intensiver wird, je länger ich lebe. Und oft denke ich, dass dieses Glück der Geschichte genau so wertvoll ist wie das Glück der Momente“.
Lange gehen beide schweigend weiter, die Nasen dem leichten Wind entgegen. Jeder versucht dem Glück der eigenen Geschichte nach zu fühlen, der Kindheit, den Geheimnissen der Jugend, der erste Liebe, den vorsichtigen Schritten ins Berufsleben. Dann über ihre gemeinsame Geschichte, diesen einen Tag, an dem sich ihre Augen und Seelen verschmolzen, an diesen mutigen Schritt in eine gemeinsamen Zukunft, an die Kinder, an das Älter werden und viele kleine, unscheinbare Momente, die ihre Glückskette prall gefüllt erscheinen ließ.
„Weißt Du, wann ich dieses Glück der Geschichte am intensivsten empfinde? Wenn wir und die Kinder von früher erzählen, wenn wir alte Alben durchblättern, wenn wir alte Videos ansehen“ sagt Frau K.
Da bleibt Herr K. stehen, lässt ihre Hand los, sieht sie an und sagt:
“Ist ja fürchterlich! Immer nur rückwärts! Immer nur von früher erzählen. Glück der Geschichte bedeutet alt werden und nur in der Vergangenheit leben. Wo bleiben die Augenblicke des Glücks, wo die Momente heute? Alt werden ist eine Zumutung, wenn es nur noch Glück der Geschichte gibt!“.
Frau K. bückt sich, gräbt mit den Händen eine kleine Grube in den Sand, hebt eine beliebige Muschel auf, schaut Herrn K. sanft an und sagt:
“Schau Lieber, diese kleine Muschel ist unser gemeinsamer Schatz, in sie legen wir nun alle Momente und Augenblicke unseres gemeinsamen Glücks. So ist sie ein Symbol für das Glück unserer Geschichte, mit allen Höhen und Tiefen unserer gemeinsamen Zeit. Diese gemeinsame Geschichte gehört nur uns, sie kann uns keiner nehmen, sie ist nicht teilbar und der größte Schatz, den wir haben.“
Als sie sich herunter beugen, zusammen ihren symbolischen Schatz in die Grube legen und sie mit Sand füllten, spüren sie ein wunderbares Gefühl der Nähe. Als sie schließlich weiter dem Horizont ihres Lebens entgegen gehen nimmt er wieder ihre Hand und weiß plötzlich, dass sich Glück der Momente und Glück der Geschichte nicht ausschließen. Im Gegenteil. Beides bedingt einander, eines kann nicht ohne das andere sein, in der Jugend genauso wie im Herbst des Lebens.
Und auch Frau K. denkt, dass sie lange nicht einen solchen Moment mit Herrn K. erlebt hat und dass es wirklich keinen größeren Schatz gibt, als wenn sich die Glückskette der eigenen Geschichte mit einer anderen verschmilzt.
Herr K..schaut zurück, wo die leichte Brise die Spur ihrer Fußabdrücke verwischt wie die Zeit das Leben. Doch hinten, weit hinten malt ein Schwarm Möwen ein seltsames Bild in den Himmel und irgendwann senkt sich der Tag zum Horizont herunter.
0 Kommentare