Brandenburger Dorfidylle

oder Nazis sind auch nur Menschen

Die Grundidee des neuen Romans „Unter Menschen“ von Juli Zeh ist ein literarischer Klassiker: Spannungsbogen durch Gegensätze, wie arm trifft reich, groß gegen klein, leicht schlägt schwer. Da der Roman in der Jetztzeit, also 2020  während der Coronapandemie spielt, liegen die Gegensätze auf der Hand: politisch links trifft auf extrem rechts, Ostdeutschland gegen West (hier Berlin). Großstadtstress gegen nachhaltiges Landleben. Und bei solchen Romanen wird oft „über Menschen“ geschrieben, dem Titel des Romans. Die Protagonistin Dora, eine junge Werbefrau, lebt mit ihrem Hund Jochen-der-Rochen und Robert, einem Journalisten, der sich zum nervigen „Corona Experten“ entwickelt, in Berlin Kreuzberg. Er bewegt sie dazu, auf Fleisch zu verzichten und in eine (natürlich von einer Frau geführten) Agentur zu wechseln, die sich auf die Fahne geschrieben hat „nachhaltig zu sein“ und ein „verantwortungsbewusstes Unternehmen“ bei deren „sozioökologischen Ideen“ zu unterstützen. Irgendwann wird Dora das Leben mit Robert zu eng und es kommt, was kommen musste: „Menschen ziehen aufs Land. Sie tun das in der Hoffnung, dem Kreislauf der Projekte zu entkommen“.  

Und tatsächlich kauft sie von einem kleinen Erbe und Kredit ein altes, heruntergekommenes Gutsverwalterhaus mit großem Grundstück in Bracken, einem kleinen Dorf im tiefsten Brandenburg am Ende der Welt. Romantik mit Garten und Hund pur. Wäre da nicht der Zaun zum Nachbarn Gote, der hier in einem Bauwagen wohnt und sich als „Der Dorfnazi“ herausstellt mit allem was dazugehört, vom Horst Wessellied bis Hitlergruß. Aufgrund der doch schwierigen Bewältigung des Alltags im Niemandsland, z.B. durch das Fehlen des öffentlichen Nahverkehrs zum Einkaufen, entwickelt sich zwischen dem braunen Gote und der rot-grünen Dora eine Art Zweckgemeinschaft bzw. „Zwangsehe“, die im Dorf natürlich zu wilden Vermutungen führt. Zu allem Überfluss verliert sie ihren Job bei der Agentur, versucht mit guten Tipps der Dorfbewohner Kartoffeln anzubauen und bekommt einen Auftrag von einem schwulen Paar, das im Dorf einen Blumenladen betreibt und ins Internet will. So schwarzweiß so gut.

Für jeden Großstadtbildungsbürger wäre das eine wunderbare Sozialstudie unter dem Motto: So sieht es also hinter dem Zaun aus und so helfen sich die 80% AFD Wähler/innen auf dem fernen Dorf. Wäre da nicht die immer enger werdende braune Zwangsehe zwischen ihr und Gote, zu dem sich später noch dessen achtjährige Tochter Franzi gesellt, die während der Ferien in dem verwunschenen Haus neben dem Bauwagen wohnt und von einer richtigen Ehe zwischen ihrem Papa und Dora mit dem Hund Jochen-der-Rochen träumt. Als durch eine geheimnisvolle Krankheit Gotes die Gesamtsituation langsam zu eskalieren beginnt, kommt auch noch Jojo, Doras Vater, ins Spiel. Er ist Chefarzt der Charité in Berlin, der zwischen seinen Operationen in Berlin und Münster auch mal mit seinem Jaguar nach Bracken düst, wenn seine Tochter in Schwierigkeiten steckt.

Bei Romanen mit einem solchen, von Gegensätzen bestimmten Spannungsbogen, gibt es meist einen Punkt, bei dem der Plot eine Lösung bringen muss. Entweder kriegen sich die Gegensätze, töten sich, arrangieren sich, verlassen sich für immer usw.

Natürlich kommt es bei dem Roman auch zu einem dramatischen Plot, der hier aber nicht verraten wird.

Gleichwohl muss kritisch angemerkt werden, dass der Roman versucht, durch die Gegensätze die Menschen hinter deren Meinung zu zeigen. Das ist gefährlich, wenn diese Meinung eine Schwelle überschreitet, hinter der jede Toleranz aufhört. Eine Szene zeigt, wie Gote zum Nazi wurde, vielleicht um Verständnis zu erzeugen. Aber dafür gibt es kein Verständnis. Unter dem Motto: Nazis sind auch nur Menschen, auch wenn sie die Menschenrechte mit Füßen treten. Oder: Göbbels war trotzdem ein guter Familienvater. Auch wenn man den Versuch der Autorin nachvollziehen kann, eine aus Gegensätzen konstruierte Sozialstudie zu schreiben, kann man solche Haltungen niemals schönschreiben. Gote ist eine traurige, besonders aber gefährliche Figur, von der Geschichte gezeichnet, aber heute (selbst)bewusst ein Nazi mit all seinen Facetten.

Wer Juli Zeh mag, ihren kurzen Schreibstil ohne lange Nebensätze, ihre überbordenden wörtlichen Reden und kreativen Namensgebungen (z.B. heißt ihr Fahrrad Gustav), ihren Sprachwitz und genauen, meist genialen Figurenbeschreibungen, der kommt hier sicher auf seine Kosten.

Wer allerdings den Tiefgang anderer ihrer Romane (wie z.B. Schilf) sucht, sucht hier vergebens. Vielleicht weil die über 400 Seiten mit der schnellen Feder (oder flinken Fingern auf der Tastatur) innerhalb eines Jahres geschrieben wurden und Zeh nun der Sucht ihres Ruhms verfallen ist, der sie sofort mit dem neuen Roman ganz oben auf die Bestsellerliste des Spiegels katapultiert hat.

Ein Roman, an dem sich die Geister scheiden, aber vielleicht ist das gerade das Ziel der Autorin.

Text und Foto: Michael Troesser

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