GENERATION AUTO
Autokindheit / Teil 1
Es muss Weihnachten1954 gewesen sein. Wie jedes Jahr freuten wir vier Geschwister uns auf den wichtigsten Tag im Jahr neben dem eigenen Geburtstag. Der 24. Dezember war der Tag, an dem das Christkind auf unerklärliche aber verlässliche Weise die lange gut überlegten Wünsche unter den Tannenbaum legte, vorausgesetzt, man war „lieb“ und „gehorsam“ gewesen, hatte immer brav gebetet und seine Sünden bereut. Als das Glöcklein endlich erklang gingen wir in das seit Tagen verschlossene Wohnzimmer, wo die Wachskerzen am Tannenbaum brannten und die Geschenke lagen.
Doch anders als in den Vorjahren lagen unter dem Baum nur sehr spärliche Pakete, für jedes der vier Kinder ein Einziges, in meinem Fall eine Micky Maus als Stofftier mit biegbaren Armen und Beinen, das mich als Biego ein langes Kinderleben begleitet hat. Doch in der Mitte, angeleuchtet von den Kerzen, stand unter dem Baum ein kleiner, silberner Stern auf einem weißen Tuch, fast wie auf einem Altar.
“Ab jetzt beginnt eine neue Zeit“ sagte der Vater andächtig, nahm behutsam den silbernen Stern und alle zusammen marschierten wir vom ersten Stock zur Garage hinter dem Haus. Nachdem die hölzerne Doppeltür geöffnet war spürte man die zugige Winterkälte kaum, sah und roch man doch das Unfassbare: Ein neues schwarzes Auto mit einem Gesicht. Links und rechts zwei große Augen als Scheinwerfer zwischen den weit ausladenden Kotflügeln wie Pausbacken, in der Mitte eine hohe silberne Nase als Kühler und darüber die Windschutzscheibe als Stirn mit Scheibenwischer wie zwei Wimpern. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Vorsichtig drehte der Vater die kleine Platte mit dem silberglänzenden Stern auf den Kühler und sagte: “Das ist unser neuer schwarzer Hundertsiebziger für die ganze Familie“. Wir dachten, dieses Gefährt wird ein neues Familienmitglied, wie ein Haustier. Schließlich war es ein Geschenk für alle.
Dann lernten wir: “Endlich sind wir den Vauweh los, endlich haben wir einen Mercedes, endlich sind wir wieder wer nach dem furchtbaren Krieg.“ Ehrfürchtig setzten wir uns in den Wagen, es roch neu und wunderbar, die vielen Knöpfe und Schalter waren eine Verheißung. Vorsichtig fühlen wir mit den Händen die Sitze, streichelten die Türen und für einen Moment dachte ich, das sei die Innenseite des Himmels. Alle vier Geschwister passten tatsächlich so grade auf die Hinterbank. Anders beim VW: Da mussten zwei der Geschwister immer quer in der Ablage hinter der Rückbank hocken und einmal einen zum Glück glimpflich verlaufenden Auffahrunfall erleben. Als wir: “O Du Fröhliche…“ sangen war plötzlich die Enttäuschung über das kleine Micky Maus Geschenk verflogen.
Seitdem dachte ich, dieser silberne Stern sei der eigentliche Weihnachtstern und dieser Glaube begleitete mich über Jahre. Der Stern über Bethlehem wurde zum Stern über Wohlstand, gute Zukunft und gesellschaftliche Anerkennung, der uns Kinder bis ins hohe Erwachsenenalter begleitete.
Als wir dann mit dem Hunderziebziger, dieser magischen Zahl des ersten aller Sternfahrzeuge, durch die Straßen rollte, schaute ich stolz aus dem Fenster auf all die Borgwards, Weltkugelfords und Fußgänger, die alle neidisch rüber schielten, dachte ich jedenfalls. Es war der Beginn einer neuen Epoche, der Autokindheit.
Denn es wurde in die Hände gespuckt, aufgeräumt und aufgebaut, um die Trümmer zu beseitigen für eine Zukunft, die besser sein sollte. Vor allem ohne Krieg. Es war wie ein Traum, der täglich mehr Form annahm und sich Stück für Stück verwirklichte. Es gab viel Nachbarschafts-hilfe, es gab Speck gegen Zigaretten, Kohle gegen Schmuck und verhungern muss keiner. Irgendwann kam dann wie von Geisterhand wieder Wasser aus der Wand, einfach so, und man lernte, dass man von Strom einen Schlag bekommen konnte und dann sofort tot war. Wie vom Blitz getroffen.
Viele Begriffe poppten im Alltag auf, die man aber als Kind nicht verstand – oder nicht verstehen sollte, die nicht erklärt wurden: Wehrmacht, Mobilmachung, KZ, Juden, Drittes Reich, Bomben, Luftschutzkeller, Fliegeralarm, Bunker, Besatzung, Hitler, Stuka (Sturmkampfflugzeug), Zone, Siegermächte, Schwarzmarkt, Schmuggel und so weit die Füße tragen.
Dem gegenüber aber gab es die guten, meist neuen Wörter, die anders als die anderen keiner großen Erklärung bedurften: 4711, Himmel und Erde (Mittagessen), Zigaretten, Neckermann- und Quellekatalog mit Damenunterwäsche, Nylonstrümpfe, Käsepicker, Nierentische, Plattenspieler, Stopfei Kofferradio und gutes Benehmen. Gib das schöne Händchen, mache einen Knicks, Hemd in die Hose, Bitte und Danke, Hände beim Essen auf den Tisch, warten bis der Vater anfängt, schweigen, wenn Erwachsene sprechen und vor allem gehorsam und sittsam beten. Und wenn man doch mal ungehorsam war gab es einen Klaps auf den Hintern und musste seine Sünde beichten. Nach drei Vaterunser war alles wieder gut. Da überlegte man sich schon, welche Sünde man am besten begehen könnte und welche nicht.
Vor allem aber gab es neue Wörter, die man als Kind auch erst langsam zuordnen konnte: Holzvergaserautos, Mercedes, Vauweh, Plastikbomber Kabinenroller oder Opel und Bemweh. Und später Porsche. Doch das Überwort war: die Amis. Sie waren die Retter aus der Not, die Guten, die einem Kleinigkeiten schenkten und die aus einem Land kamen wie aus dem Paradies: Amerika. Ja, so wollte man werden, fast waren sie wie Gott, denn ohne sie wäre nicht das entstanden, was man das Wirtschaftswunder nannte. Und Wunder können nur Götter vollbringen. Wobei übrigens die Kinder nie wussten, was in diesem Zusammenhang Wirtschaft war, denn damit wurde eher die Eckkneipe verbunden und die war oft alles andere als wunderbar.
Erst nach und nach kam der Verkehr auf, ohne den dieses Wunder nicht gekommen wäre. In den ersten Jahren allerdings nur auf zwei Rädern als Fahrrad, Moped oder stinkendes, lautes Motorrad. Das störte aber keinen, war eher eine sicht- und riechbare Verheißung auf eine bessere Zeit. Denn für all das Aufräumen und Aufbauen war eines des wichtigsten Voraussetzungen die Mobilität. Allerdings auch ein schwieriges Wort, denn Mobilmachung war auch auf der Liste der Tabuwörter.
Und genau an dieser Stelle pflanzte sich bei vielen, vor allem Jungen, etwas ein, was man den Autovirus nennt und der bei vielen bis heute geblieben ist, oft von Generation zu Generation übertragen. Mehr oder weniger. Das wichtigste Geschenk für das ganze Aufräumen und eine bessere Zukunft. Zwar erklärten einem die Erwachsenen, Auto heißt Selbst und Mobil Bewegung und man hätte es eigentlich leicht mit Selbstbeweger übersetzen können, aber natürlich ging und geht das – trotz aller Fortschritte – bis heute nicht. Es bedurfte immer eines Fahrers, der besondere Fähigkeiten haben musste, den Führerschein (Führer?), später liebevoll Lappen genannt.
Seit dieser Weihnachtsnacht in der Garage brachten wir Kinder unseren Autos eine große Ehrfurcht entgegen. Oder eher: Den Kindern wurde von den Eltern die Autoehrfurcht abverlangt. Am Sichtbarsten beim Autoputzen jeden Samstag vor der Garage. Ich selbst durfte zunächst nur die Räder und Radkappen mit einem Schwamm schrubben, während mein großer Bruder bereits mit dem Fensterleder an den Lack vorsichtig abwischte während die große Schwester bereits den Innenraum staubsaugen durfte. Der Vater hatte eine höllische Angst, ein Schmutzkorn könne sich im Fensterleder verfangen und zu üblen Kratzern auf dem teuren Lack führen. Später durfte ich dann Stoßstange und Nummernschild wienern, bevor ich dann Jahre später das Fensterleder auch für den Lack in die Hand gedrückt bekam, mit genauen Anweisungen über Wasch- und Auswirngritualen.
So wurde das Auto nicht nur Statussymbol, an dem wir Kinder uns in Stufen abarbeiten mussten, sondern schlicht der Mittelpunkt der Welt.
Und dieser Mittelpunkt änderte alle paar Jahre sein Gesicht, vor allem, als der erste „Ponton“ Mercedes bestellt wurde, der mit dem „dicken Hintern“ wie der Vater es ausdrückte. Ich konnte mir zwar Einiges unter „dicken Hintern“ vorstellen, dafür weniger unter „Ponton“ und ließ mich überraschen. Der Prospekt jedenfalls versprach viel Neues: “Die strömungsgünstig geformte Ganz- stahlkarosserie“, die „erhöhte Fahrsicherheit durch freien Ausblick nach allen Seiten“ und schließlich die „elegante Zeituhr, für alle Wageninsassen gut sichtbar“.
Mein Vater schwärmte allerdings mehr von dem starken Motor, mit dem er allen davonfahren wollte: Die 52 PS brachte es auf eine Geschwindigkeit von „gestoppten 126 km/Std“ und verbrauchte nur 8,7 Liter auf 100 Kilometern. Eigentlich magische Werte, die ein rasante Zukunft versprachen, die allerdings durch die Werte auf meinem ersten Autoquartett enorm in den Schatten gestellt wurden. Dort gab es Namen wie Vega, Lancia, Jaguar, aber der absolute Favorit war der Mercedes 300 SL, dessen 215 PS den Wagen auf sage und schreibe 265 Stundenkilometer beschleunigte. Unvorstellbar. Das 1956!
Als dieser schwarze Hundertachtziger dann majestätisch mit großem Schiebedach und etwas x-beinig vor die Garage rollte, war dies in der Tat ein Dimensionssprung für und Kinder. Fast schon wie ein amerikanischer Straßenkreuzer. Zwar ohne Flügel, dafür aber mit riesig viel Platz und kleinen Lichtern im Innenraum, die man einzeln ein- und ausschalten konnte. Einer der Geschwister wollte immer vorne sitzen, meist auf dem breiten und straffen Rockschoß der Mutter auf dem Beifahrersitz. Vorne sitzen! Das war schon fast wie selber fahren.
Da konnte man die Tachonadel hautnah spüren, den Schalthebel und das Gaspedal. Vor allem aber das Schiebedach aus Stoff. Man saß beinahe wie in einem Cabrio, wenn sich der Himmel über einem öffnete und die Sonne hereinließ, nachdem der Vater mit beherztem Schwung das Stoffdach zurückgeschoben hatte. Meistens zum Ärgernis der Mutter, die immer einen Zuch fürchtete, wenn das Dach zu weit geöffnet war, in Wirklichkeit aber Angst um ihre frische Haar-Toupage hatte. (Fortsetzung folgt….)
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