Er ist blind. Stumm und zufrieden tastet er sich durch sein Leben. Das Dunkel ist ihm zur Gewohnheit geworden. Die Stille zum Glück. Er lacht wie das gedankenfreie Kind.

Nach einer langen Zeit in seiner Heimat fühlt er sich in einem neuen Raum. Neugierig ertastet er mit seinen Fingerspitzen die Wände, wagt erste, vorsichtige Schritte hin zu einem ungewohnten Geruch und stößt auf eine Art Seife, die ihn magisch anzieht und hält.

Vorsichtig bohrt er seine Finger in die weiche, wohlriechende Welt, krümmt die Daumen, windet sich in der Ahnung dieses neuen Gefühls. Unversehens erzeugt er Schaum, der erst seine Hände bedeckt und bald auch die Unterarme umschließt.

So steht er eine Stunde auf einem Fleck und bildet in zarten Drehungen seiner Finger unaufhaltsam mehr und mehr Schaum, der ihn in spannende Vorahnung versetzt.

So, als erwarte er etwas Ergreifendes, legt er langsam seine Kleidung ab und merkt, dass ihm dabei nicht kälter, eher wärmer wird.

Während er sich dabei einmal bückt, streift sein Gesicht wie durch Zufall den Schaum an seinen Armen und durch seine gewohnte Finsternis bricht kurz ein Strahl.

Erschrocken und tief bewegt von diesem Sekundenlicht, nimmt er gierig den Schaum und reibt sich in wilden Bewegungen die Augen. So wischt er sich Zug um Zug seine alte, liebgewonnene dunkle Welt aus dem Gesicht. In diffusem Licht geben sich ihm nun geheimnisvolle Dinge frei, die er in ihrer Größe nur allmählich erahnen kann.

Da ist ein lebensgroßer Spiegel, auf den er nun gebannt und von dem neuen Licht geblendet starrt. Alles andere bleibt weiter dunkel und ohne Bezug um ihn herum.

Sich selbst erkennt er im Spiegel nicht. Noch nicht. In seiner Welt gab es keine Spiegel.

Ungeheuer langsam formt sich auf der Wand sein Ebenbild aus glattem Marmor, unbeweglich und kalt.

Die Züge sind fein getroffen, die Kanten geschliffen, die Oberfläche ist makellos poliert, zurechtgemacht wie für eine Ausstellung von Marmorleichen. Die Haare sind zu erkennen, selbst der Bart ist ihm geblieben. Seine Schultern sind nach seinem Ebenbild geformt, sein Körperbau ist ebenmäßig. Sein Geschlecht liegt zufrieden schlafend geschützt in seiner Marmormulde. Die Augen sind unbeweglich und leer, tiefe Höhlen aus getrocknetem, verlebtem Gestein.

Als er von einem zauberhaften Wahn getrieben sich den Regenbogenschaum immer mehr in die Augen reibt, sie gleichsam salbt und heftig zu öffnen versucht, beginnen die steinernen Augen seines Ebenbildes unerträglich langsam zu leben. Der tote Marmor fängt an, sich in tausenden winziger Schichten zu schälen. Wie dünnste Eierschalen fallen mal hier, mal dort Stücke aus dem Stein heraus, schweben ins Leere, verharren förmlich in der Luft und fliegen auf einen Boden, den sie nie zu erreichen scheinen.  Dies versetzt seiner ängstlichen Seele einen Stich und schafft ihm dennoch eine Art neuer, bisher ungekannter Befriedigung.

Schließlich steht ihm im Spiegel ein Marmorbild mit noch starren, aber nunmehr lebend scheinenden Augen gegenüber.

Fasziniert und ergriffen von diesem reizvollen Spiel des Erweckens beginnt er wie von Sinnen sein gesamtes Gesicht, ja jede einzelne Faser seiner Haut mit Schaum zu bedecken. Langsam aber unaufhaltsam zerfällt nun der Marmor seines Ebenbildes. Zug um Zug schmelzen die Schalen des Gesteins in Nichts.

Zum Vorschein kommen immer neue Schichten, Häuten gleich. Oberflächen aus Eisen und Bronze, aus weichem Stoff und alt gewordenem Leder. Oft überschneiden sich die Schichten. Noch ist die rechte Wange aus Bronze, schon ist die Stirn aus Leder. Ungeahnte Hautvariationen bedecken in immer neuen Spielformen sein Gesicht.

Angetrieben von dem Reiz der neuen Bilder und von ungeahnter Neugier ergriffen, beginnt er, seinen gesamten nackten Körper mit dem dem labenden Schaum zu salben. Er fährt sich über die Schultern, reibt sich die Brust, streicht fast zärtlich über die Arme, nimmt sein Geschlecht, reibt sich die Beine ein, bis schließlich der letzte Zeh über und über bedeckt ist mit dem neuen Schaum der Erkenntnis.

Als diese ernste Reinigung beendet ist, schaut er erstmals verwundert in den gesamten Spiegel. Ungläubig stellt er fest, dass sein Ebenbild aus Marmor, das an allen Stellen eine neue Struktur angenommen hat, alleine weiter gärt. Schritt um Schritt öffnet sich nun das Gestein. In der wieder unbeschreiblich lange folgenden Zeit der Wandlung beginnt sein eigener Körper derart zu schmerzen, dass ihm die Sinne vergehen und er sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder glücklicher Gefangener seiner Blindheit zu sein, nicht gesehen zu haben, schaumlos aber schmerzfrei in sich wohlig gefangen, geborgen im erkenntnislosen Schlaf.

Entsetzt sieht er das Blut in seinen Adern, sieht Muskeln und durch die Transparenz erahnt er jeden Knochen.

Er windet sich förmlich in der unerwarteten Qual über das Angerichtete. Zitternd nimmt er die Seife wieder in beide Hände, um sich ein zweites Mal zu salben, weil er sich davon Linderung verspricht. Doch der Schmerz bleibt, er versucht seine Haut zu glätten, doch auch dies lindert nicht die Hitze seiner selbst erzeugten Hölle.

Wie ein Lauffeuer verzehrt sich das Bild seines Gegenübers und die Angst vor der Wahrheit lässt ihn erzittern.

Nach einer unendlich langen Zeit sind ihm sämtliche Häute wie weggebrannt.

Als er ein letztes Mal in sein Gesicht sieht, sieht er nicht sich, sondern die scharfen, sonderbaren Züge eines Gottvaters. Die Strenge eines schmalen Mundes, die Kälte der prüfenden Augen, die Rundung seiner übermächtig hohen Stirn.

Erschrocken von seinem neuen Geheimnis schreit er, doch niemand hört ihn außer den Wänden der Raumes, die teilnahmslos widerhallen.

Er ringt mit den Händen nach Hilfe, doch niemand sieht ihn außer sein gespiegeltes Ebenbild.

Er versucht zu rennen, doch er tritt nur auf der Stelle.

Er trommelt mit den Fäusten wie wild gegen die Spiegelscheibe, doch er schlägt nur seine eigenen Wunden. Aus Verzweiflung grinst er höhnisch, doch auch das kann den Spuk nicht vertreiben.

Einmal sucht er die alten Marmorschalen, um mühsam sein gewohntes Bild wieder herzustellen. Doch wie immer er sich auch versucht, immer wieder formt sich das Bild eines Gottvaters aus dem Nichts.

Dann, als er so dasteht, geschieht etwas Merkwürdiges.

Die Konturen seines Gesichtes gehorchen ihm plötzlich nicht mehr. Sie scheinen sich zu verselbständigen. Es ist ihm, als versuche sich sein Mund mit Grinsen, seine Augen mit neuem Lächeln.

Dann plötzlich sieht er nicht die Prägung des Gottvaters im Spiegel, sondern sich selbst, hautentblößt und nackt.

Eben noch versunken und betäubt von übergossem Schmerz ist ihm, als beginne ein neuer Morgen. Denn mit einem Mal üben sich die Schulten in kreisenden Bewegungen und die Arme heben und senken sich wie von heimlicher Hand geführt.

Sein Geschlecht erwacht und noch ehe er es recht gewahr wird, beginnen die Beine einen vorsichtigen Tanz, ein Vor und Zurück. Ein zarter Kreis. Erst steif und ungelenk versuchen sie sich vom Boden zu heben. Doch schon nach kurzer Zeit überkommt seinem Ebenbild eine Anmut, die ihn nicht nur magisch anzieht, sondern ihn mit unaufhaltsamer, sanfter Gewalt in sich hinein zu saugen scheint.

So wird er für den Augenblick eins mit dem neuen Leben und schaut aus sehenden Augen aus sich heraus. Nicht mehr nur in das schillernde Ebenbild im Spiegel, sondern in einen Raum, der sich ihm langsam erhellt und gleichsam mehr und mehr erschließt. Immer neue, mal geheimnisvoll, mal vertraute Erker eröffnen sich seinem Blick der neuen Erkenntnis. Wärme stahlt ihm entgegen, Sekunden von Geborgenheit ,die die noch angstvoll tastenden Schritten geben.

Der Schaum ist vertrocknet, die Seife verbraucht. Geblieben ist einer, der – wenn auch nur für den kurzen Glanz bald vergessener Momente – das Sekundenspiel der Augenblicke begriffen hat. Nur manchmal, manchmal sehnt er sich zurück zu der Blindheit des Anfangs, dieser erkenntnislosen Form des Seins. Diesem gedankenlosen Glück der frühen Gefühle. Doch das bildlose Dunkel ist verschlossen für immer.

C Michael Troesse 2021


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