Die Türschwelle der Liebe

 

Sie wohnten seit langem nicht mehr zusammen. Doch in der letzten Zeitstand er immer wieder vor ihrer Wohnungstür, klopfte, klingelte und obwohl er wusste, dass sie zu Hause war, öffnete sie ihm nicht. Zu Beginn ihrer Beziehung war eine Tür immer das Symbol ihrer Liebe gewesen, im übertragenen wie in realistischem Sinn. Sie öffneten sich nach und nach die Türen zum Herzen des anderen und überschritten so immer mehr die Schwelle zum Wir. Je mehr Schwellen sie überschritten, sich Türen öffneten, umso mehr wuchs ihre Liebe, umso mehr schlossen sich real die Türen hinter ihnen. Die Welt blieb draußen. Innerhalb der Türen waren sie für sich allein, im Haus, in derWohnung in ihren Zimmern. Doch nach einer Zeit öffneten sich die Türen wieder,l angsam und fast unmerklich suchte sich das Gefühl wieder einen Weg in dieFerne des eigenen Ichs, und als die Schwelle zurück irgendwann überschritten war,für beide wieder ein neues Leben. Neue Menschen, neue Beziehungen wechselten sich ab. Diese Drehtür derBeliebigkeit machte sie schwindelig auf dem Weg zum jeweils neuen Glück. Doch je mehr milchige Glastüren ihm Zukunft versprachen, umso durchsichtiger wurde sein Gefühl, und er sehnte sich nach dem abgeschlossenen Raum ehemaliger, intimer Zweisamkeit. Er wollte noch einmal die Türschwelle von früher überschreiten und das ehemalige Wir spüren.

So stand er einmal mehr voller Sehnsucht und Spannung vor ihrer Wohnungstür, die sich endlich öffnete. Endlich war es soweit. Endlich konnte er wieder in ihre Augen sehen, und es würde eine neue, gemeinsame Zukunft beginnen. Doch anstatt sich in die Arme zu nehmen sahen sie sich nur an, und keiner von beiden konnte trotz der geöffneten Tür die Schwelle zum anderen überwinden. Traurig wurde ihm plötzlich klar: Die innere Schwelle kann stärker sein, als die geöffnete Tür, die sich hinter ihm für immer schloss, als er sich umdrehte und ging.

C Text&Bild Michael Troesser