Der Schnee reicht bis zum Horizont.
Eine weite, weiße Fläche mit kleinen, unbedeutenden Erhebungen. Gefühllose Stille von allen Seiten. Auf einem Hügel sieht er das Ziel, kurz vor dem Ende des Möglichen. Ein kleiner schwarzer Punkt. Nicht größer als der Kopf einer kaum wahrnehmbaren Stecknadel im Schnee.
Fußspuren, die größer sind als seine eigenen, führen ihn, weisen ihm den Weg. Bei jedem Schritt in die vorgezeichneten Vertiefungen sinkt er ein und hat Mühe bei jedem weiteren.
Unter ihm, unter dem Schnee ist Eis, hier und da von schmalen, schwarzen Spalten zerschnitten. Tief unter dem Eis ruht Wasser, nichts als Wasser bis weit über das Ziel und die Zeit hinaus. Ein nicht fassbares Zeichen von Ewigkeit und gelebtem Leben.
Die Sonne reflektiert an den Rändern der großen Fußspuren kleine, bunte Diamanten, die er aufheben will. Sie zerschmelzen bei der kleinsten Berührung.
Er geht langsam, schleppend, vornüber gebeugt. Ein Seil schneidet tief in seine Schulter ein. Hinter sich zieht er den flachen Schlitten, sorgsam mit Planen verknotet. Ort seiner noch verbliebenen Habe. An der Seite hängt baumelnd das Geschenk. Seine Augen scheinen von der Sonne zu erblinden, die ihm entgegen strahlt. Die Kälte sitzt tief in seinem Bart, in den Haaren, die links und rechts die Pelzmütze verlassen.
Jeder Blick zurück ist ein heimliches Eingeständnis in die weiße Wüste der Vergangenheit. Jeder Blick nach vorne in die Ungewissheit des Seins. Einzig das Ziel bleibt die Hoffnung. Plötzlich, wie aus dem Nichts, verdoppeln sich die Spuren und geben eine Gabelung frei, die er nicht zu deuten weiß.
„Warum eine Entscheidung in der Entscheidung?“ denkt er.
„Wer fordert wieder? Von woher diese plötzliche Möglichkeit abzuzweigen?“
Er stößt Verwünschungen aus, die keiner hört. Keiner weiß, wem sie gelten.
Mit einem Ruck zieht er den Schlitten an und erstickt jede weitere Überlegung.

Er versucht den neuen Weg, doch das Seil vom Schlitten reißt. Langsam dreht er sich um, so als wäre ihm jede Bewegung zu viel, bückt sich und knotet mit Bedacht das Seil nah am Schlitten.
Dann ein weiterer Versuch und der Schlitten gleitet hinter ihm auf dem neuen Weg. Die erste Zeit in der Ungewissheit schnauft er voller Unruhe, doch dann hat er sich an die neuen Spuren gewöhnt, die kleiner und weniger mühsam sind, als die ersten. Auch wenn er jetzt das Ziel kurz aus den Augen verliert, glaubt er an den neuen Weg. Doch langsam, nach und nach merkt er, wie die neuen Spuren eine Kreisbahn formen, immer enger werden, wie eine Spirale, die schließlich endet an einem unvorhersehbaren kleinen Punkt vor einem schwarzen Loch im Schnee. Das Ende des neuen Weges, des Auswegs.
Er schaut in die Sonne, sucht wieder mit zugekniffenen Augen das Ziel. Er hat es verloren.
Die Wegspirale hat hin hinweggeführt. „Ich bin ein auf falscher Strecke gebliebener, ein durch seine Entscheidung nach der Entscheidung verlorener, der sein Ziel nicht erreichen wird, wenn die dunklen Dämonen der Nacht mir das Licht zum Zielen löschen.“
Langsam beugt er sich hinunter, legt das frierende Ohr an das Loch und hört ein leises Rauschen wie Musik. „Die Töne schneiden den größten Schmerz“, denkt er, nimmt seine steifen Hände, formt sie zu einem Sprachrohr und versucht zu schreien. Seine Gedanken haben die Worte schon auf den Weg geschickt, doch sie kommen nicht aus ihm heraus.
Nur ein leises, fast verzweifeltes Stöhnen. „Gute Reise zum Ziel“ glaubt er zu hören, war es der Anflug eines sehnsüchtigen Wunsches oder ein ironisch böser Fluch?
Behutsam richtet er sich auf, dreht den Schlitten um, legt die Schnur über die Schulter sieht die Spuren der Spirale, orientiert sich kurz am Stand der Sonne und beginnt seinen Weg zurück.
Angekommen bei seiner alten Spur sieht er endlich wieder sein Ziel wie ein Freudenhaus.
Jetzt folgt er dem Weg der tiefen Furchen, doch seine Kräfte werden immer schwächer.
Immer öfter hält er an, um tonlos zu fluchen, mit schmalen Augen das Ziel zu fixieren, das nicht näher zu kommen scheint.
Schließlich hört er von Ferne einen Pferdeschlitten, bald die hellen Glocken, sieht die schwarzen Hengste gegen die Sonne. Die Geräusche sind wie Wärme für seine Ohren, Labsal für die Seele. Er nimmt einen Arm hoch und versucht zu winken. Dann rudert er verzweifelt mit beiden Armen in der Luft, doch die Bewegungen ersterben in sich selbst, als wären sie niemals gewesen. „Halt an Kutscher, nimm mich mit auf die Reise. Sag doch
ein Wort zum mir. Spiel mir auf deiner Flöte!“ Wie ein Wahnbild fliegt das Gespann davon und lässt ihn allen in seinen Fußspuren zurück. Tränen werden zu Eistropfen vor seinen Augen. Kleben wie Geschwüre auf seinen Wangen.
Einmal sieht er ein dunkles Bündel, fast wie ein toter Igel, nicht weit von seiner Spur. Er stellt den Schlitten ab, legt das Seil vorsichtig zurecht und wagt die Schritte abseits des Weges. Abseits der Spur. Das Eis unter ihm knallt wie alte Geschosse. Irgendwo in der Ferne die Geburt neuer schwarzer Spalten.
Dann steht er vor dem Bündel. Zerfressene Kordelreste klammern sich um das nasse, Etwas. Seine Finger versuchen sich an den Knoten, doch kein Zentimeter öffnet sich das Geheimnis. Lässt keine Blicke zu. Das Leinen scheint zu atmen wie runde Geschlossenheit ohne Kälte. Mit dem Stiefel stößt er dem Geheimnis in die Seite. Wie erschrocken dreht es sich um, fällt in sich zusammen und gräbt sich für immer in den Schnee. Wieder Stille.
Zurück auf seinem Weg schaut er sich um. Nichts als weiße Fläche, vereinzelt von den Stöcken der Eisfischer durchbrochen, um ihre Löcher wiederzufinden. Zeichen versuchten Lebens. Je mehr er geht, zieht, ermüdet, desto mehr wird alles eins. Die Kälte, die Weite, die Sorge, die Hoffnung. Allein das Ziel gibt ihm noch Kraft zum leben.
Unverhofft sieht er neben sich eine junge Frau in fester Kältekleidung. Er kann es nicht fassen, sieht nur ihre Augen. Die Augen aller Frauen in seinem Leben. Er streckt ihr seine freie Hand entgegen in der Hoffnung auf lichte Schwaden von Nähe und Wärme. Doch als er sie berühren will, schmilzt sie in sich zusammen und auch sie vereinigt sich mit dem Puder des Schnees. Seine Realität und sein Traum haben sich gepaart. Er weiß nicht
mehr, wo seine Phantasie beginnt und sein Gefühl endet. Alles schließt sich in ihm zusammen, nur das weite Ziel vor Augen ortet seine Kraft.
Einmal die schwarze Silhouette eines großen, stummen Vogels genau über ihm.

Er scheint nicht zu fliegen, sondern im Blau zu verharren. Es könnte genauso gut ein in die Höhe geworfener Stein sein, in der Kälte schwebend.
Die Erde ist tot. Wo bleiben die Stimmen der Tiere, das Schreien der Kinder, das Lachen der übermütigen Mädchen? Wo die warmen Gesänge der Mutter, die Freude beim überqueren des Flusses? Nichts als Trugbilder ihrer selbst. Abgelegte Filme der Vergangenheit. Auch das Grün ist nicht mehr. Das helle Grün der Wiesen, das Grün der Eidechse, das Grün des Rosenstocks, der sich am alten Kamin verrankt. War das Grün mehr als eine Brechung der Netzhaut? Mehr als ein Wahnbild der Augen? Oder nur
verführerische Truggestalten einer entstellten Welt?
Als die tiefe Sonne das weiße Bühnenbild in Farbe taucht, die Stöcke der Eisfischer zunehmen und immer neue Fußspuren sich wie aus sich selbst heraus formieren, ist das Ziel bald erreicht.
Je näher er kommt, um so größer wächst aus dem kleinen Punkt am Horizont langsam ein Haus, hoch oben auf dem Eishügel. Ein großes Gebäude mit Türmchen und Kaminen, Erkern und abgebrochenen Balkonen, mal dunkel, dort heller, mit festen Außenwänden und verfaulten Planken, die vor der Last der Möglichkeiten ächzen. Ein mächtiges Werk, das sich ohne Bedrohung abhebt von dem Lila des Abendhimmels.

Doch all das sieht er nicht. Er sieht nur die Haustüre dort oben, das Ziel aller Wünsche. Noch nie in seinem Leben hatte ein Übergang eine solche Bedeutung. Da keine Stufen in das Eis des Hügels geschlagen sind, die zum Besuch einladen, versucht er es auf allen Vieren, rutscht immer wieder ab, sodass es eine Weile dauert, bis er mit steif gefrorenen Händen und dem Geschenk auf dem Rücken mit letzter Kraft oben sein Ziel erreicht.
Zwischendurch angebundene Hunde mit fletschenden Zähnen, die ihn willkommen heißen, die dem Neuankömmling aber nichts anhaben können. Das helle Gebell weht ihm ihren Atem entgegen wie lange ersehnte Zeichen von Wärme und Leben.
Erschöpft, doch gleichsam erleichtert setzt er sich auf eine marode Bank nah der Türe, zieht die zerfrorene Mütze mühsam vom Kopf, klopft seine Stiefel ab.
„Ich bin angekommen“ sagt er leise und lernt zum ersten Mal wieder zu lächeln. Breit und voller Erwartung stellt er sich vor der Türe auf, wischt sich den Restschnee von dem alten Mantel und dreht mit letzter Kraft am Knauf. Weit hinten hört er ein Schlürfen, Schritte. Die Türe wird einen Spalt geöffnet.
„Wir erwarten keinen Besuch“ zischt ihm ein Alter durch zahnlose Lippen entgegen.
„Ich bin angemeldet!“ Antwort er :“Seit langer Zeit“.
Die Tür wird wieder geschlossen und wieder ist er alleine mit den fletschenden Hunden.
Es dauert ihm eine Ewigkeit, bis endlich die Kette entfernt und die Türe geöffnet wird.
Der alte, gebeugte Mann steht kaum sichtbar im Flur und macht ihm eine Bewegung ins Innere.
„Ich bin angemeldet, schon ein Leben lang!Ich habe ein Geschenk!,“ sagt er noch einmal mit zitternder Stimme, doch der Alte macht nur wieder seine Armbewegung ins Innere.
Im Haus ist es halbdunkel und riecht feucht. Moder schlägt ihm entgegen. Ein langer, kaum verputzter Gang führt ihn in die Schlächterei. Plötzlich ist es taghell. Hier hängen an großen, mattsilbernen Haken dunkelbraune, verschnürte Bündel von der Decke hinab.
Das zerlumpte Leinen atmet nicht mehr. Es stinkt nach totem Fisch,
An der Wand steht der pralle Schlächter wie aufgepumpt in seinem blutbespritztdem Kittel.
Mit dem Messer in der Hand schaut der den Ankömmling aus kleinen, roten Augen flüchtig an.
„Ich bin angemeldet, ich habe ein Geschenk!“ versucht er es erneut, versucht dem Koloss seine Langweile zu vertreiben.
Der sieht in eine andere Richtung und sagt bitter:
“Es hat genug gegeben von Deiner Sorte. Geschenke bleiben nicht.“
Dann geht er schlürfend zur Seite, öffnet die Türe und weist ihm mit dem Messer den Weg in einen weiteren Gang hinaus. Ihm bleibt keine Wahl.
In einem Erker trifft er auf den Kutscher, der in sich versunken in der Ecke hockt und unbeholfen auf seiner Flöte spielt. Als er den Ankömmling sieht, beendet er abrupt sein Spiel und zeigt ihm unmissverständlich mit seiner Flöte den Weg in einen weiteren Gang.
Schließlich hört er in einem Nebenraum den Rhythmus einer ungeölten Liebesmaschine.
Durch ein zu hohes Fenster schaut er, mühsam auf seinen Zehenspitzen stehend, in den hell erleuchteten Raum, wo ein nacktes, altes Paar, eingezwängt in die Maschine versucht, sich zu vergessen. Bei jeder Bewegung schleift die helle Pergamenthaut der beiden aneinander wie zu grobes Schleifpapier. Ungestört von gelangweilten Umherstehenden wird die Maschine bewegt, mit gleichgültigem Gesichtsausdruck.
„Jeder kommt einmal dran, denkt er. Jeder. “Als ein verkrüppelter Ordner den Schauenden sieht, stößt der ihn mit seinem Gummistab leicht an und zeigt zu einem weiteren Flur. „Ich bin angemeldet! Wann bin ich am Ziel?“ fragt er den Krüppel, halb flehend. Doch der hat sein Gesicht schon wieder verschlossen.
Am Ende kommt er endlich in den warmen Raum für Geschenke. Zwischen ausgestopften Spinnen und Wasserbehältern, bemalter Urnen und vergilbten Friedenspfeifen macht er weitere Geschenke aus. Verschnörkelte Heiligenfiguren mit Rosenkränzen, originalverpackte Schädel, Entgiftungsmittel, Mitbringsel aus fernen Ländern, alte Puppen
ohne Augen, zerbrochene Uhren und buntbedruckte Bilder, auf denen die Menschen ausgeschnitten sind.
Gierig reißt der Geschenkdiener ihm das Geschenk aus der Hand und wirft es ungesehen und nur noch notdürftig verpackt in einem hohem Bogen lieblos zu den übrigen, wo das Leinen leise aufschreit wie ein alleine gelassenes Kind.
Stumm zeigt der Diener auf die Türe nach draußen, die wegen der Kälte mit schweren alten Matratzen abgedichtet ist.
Mit letzter Kraft und völlig entmachtet von seinem Ziel schiebt er die Matratzen zur Seite, öffnet mit einem Ruck die Türe und steht wieder ihm Freiern, dessen Licht die Sonne längst verlassen hat.
Auf einem dreibeinigen Schemel sitzt eine von festem Stoff gehaltene Greisin. Sie singt leise das Lied vom Kutscher vor sich hin.
Er stellt sich voll wütender Verzweiflung dicht vor ihr auf und versperrt ihr die Sicht:
„Mein Geschenk habe ich abgegeben, ich war angemeldet, wo also ist mein Ziel?“ Die Greisin schließt ihren Gesang, zeigt mit einer leichten Kopfbewegung über die unendliche Schneedecke bis zum Horizont, zeigt über das Eis, zeigt am Sternenhimmel entlang auf einen kleinen Punkt am Ende der Zeit, der leicht flackert wie verbrennende Kohlen. „Dort ist Dein Ziel, Dein Schlitten ist schon bereitet. Dein Geschenk musst Du Dir selbst besorgen. Und bedenke, es hat viele Suchende vor Dir gegeben. Sie alle suchten ihr Ziel.“ Dann fällt sie leicht in sich zusammen, beachtet ihn nicht weiter und vollendet das Lied vom Kutscher.
Ohne lange zu überlegen, kalt im Herz und auf der Haut, mit vielen Bildern und Tönen in den Sinnen, lässt er sich den Eishang hinuntergleiten, zieht sich sorgsam die Fellmütze auf, nimmt die Kordel des Schlittens in die zerfurchten Hände, schaut ein letztes mal hoch zum Haus, sucht die tiefen Spuren im Schnee und beginnt langsam mit seinem Blick zum
Horizont seinen neuen Weg. Schließlich paart sich seine Angst mit Zuversicht, die ihn sicher durch die kalte Nacht tragen werden. Die Spuren im Schnee weisen ihm den Weg.

C Michael Troesser 1973/2024

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