Wir leben in einer Welt des Öffentlichen. Millionen Menschen kehren unaufhaltsam im Netz ihr Innerstes nach außen mit dem unstillbaren Verlangen nach Kommunikation, Distanzlosigkeit und persönlichster Öffnung als Form vermeintlicher Nähe: Das digitale Tagebuch, oder besser: Der Blog. „ Wortkreuzung aus englisch Web und Log für Logbuch oder Tagebuch.“(Wikipedia)
Hier bietet das Internet, z.B. via Facebook oder Youtube, die Bühne für unsere intimsten Gedanken, Gefühle, Bilder oder unserer fortlaufenden Lebensgeschichte. Viele, nicht nur junge Menschen, begeben sich auf diese reizvolle Ebene, dort das Private zum Öffentlichen zu machen, das Intime für alle lesbar. Die eigene Einsamkeit, das Glück, das ungehört Unerhörte, die Details der Seele können hier präsentiert und ungeschützt konsumiert werden. Mit dem Wunsch, im Bad der stummen Masse die eigene Unwichtigkeit zu überwinden. Ein Fastfood der Entäußerung, mit dem man die Mühen der Selbstvergewisserung z.B. eines täglichen, unzugänglichen Tagebuchsschreibens schnell und vermeintlich erfolgreich ersetzen kann.
Begriffe wie Freundschaft relativieren sich vor dem Hintergrund hunderter Facebook-Freunde, vieler Geheimnisse oder Intimitäten, früher dem verschlossenen Poesiealbum mitgeteilt, verwässern so bis zur Beliebigkeit. Das digitale Zeitalter hat uns eine neue Welt der Bebilderung und damit auch des Erinnerns geschenkt: Die Inflation des Möglichen. 200 Digitalfotos eines Wochenendtrips auf einem winzigen Plättchen haben die 36 Bilder des Rollfilms ersetzt. Oder das sorgsam ausgesuchte Bild für das Tagebuch.
Der behutsame Moment im Sucher oder am Abend vor dem eigenen Tagebuch ist der einfachen, permanenten Archivierung jeder Gegenwart gewichen. Wie mit einem digitalen zweiten Auge wird der Alltag begleitet, aufgenommen und abgelichtet, wird das Alltägliche zum Besonderen, das Nebensächliche zum Außer-gewöhnlichen. Alles wird teilbar, alles mittelbar.
Alles kann öffentlich werden, jedes Gefühl transparent. Icons für jede Handlung, ob weinen, schlafen, reisen oder schnarchen, wird durch Kleingrafik kommuniziert. o früher die Kompetenz der Formulierung nötig war, um den Facettenreichtum der inneren Welten mit der Kunst der Sprache zu beschreiben, steht jetzt nur ein Herz, gezeigte Zunge oder tränendes Auge. Den Rest muss man sich hinzudenken. Oder fühlen.
Alles wird mitgeteilt, als könne man damit der Zeit die Vergänglichkeit entreißen. So wird die eigene Geschichte zum Schnelldurchlauf durch die Zeit. Erinnern wird mehr und mehr auf die Festplatte verlagert, eingefroren für die Zukunft der Vergangenheit. Ausgelagert in eine Technik, deren Halbwertzeit und lebendige Nutzung endlich und absehbar ist. Wie zum Beispiel bei alten 8mm Filmen, vormals die Sensation des Bewegtbildes oder wie bei anderen Techniken auch (Auch Papier wird irgendwann vergilben).
Allerdings braucht der Mensch Heime, geheime Welten, Schutzräume, Rückzugmöglichkeiten, in denen er ganz bei sich selbst ankommt, die nur sein Geheimnis sind, in denen sich Träume entfalten, in denen sich Fantasie Raum bricht oder Ideen formen. In denen sich die kaum teilbaren Tiefen des Daseins aufscheinen, die mit nichts und niemanden teilbar sind. Nicht nur die Momente größter Katastrophen und Ängste, Krankheiten und Tod, sondern auch die, größter Nähe, höchsten Glücks und erfüllter Liebe. In diesen Momenten wird Leben unergründbar, ist jeder Mensch mit sich oder seinem Gegenüber alleine. Dort hat nicht nur jeder Mensch sein Geheimnis, ist selbst Geheimnis wie das Dasein selbst. So zieht sich durch den Alltag und die Gesellschaft eine zweite Ebene der Geheimnisse wie ein ständig begleitender Schatten: Briefgeheimnisse, Beichtgeheimnisse, Amtsgeheimnisse, Bankgeheimnisse, Geheimbünde bis hin zu Staatsgeheimnissen. Oder persönliche Geheimnisse, die – wenn überhaupt – nur das eigene Tagebuch kennt. Fast alle Familien haben meist ein oder mehrere Geheimnisse, die erst im Laufe der Jahre langsam aufgeklärt werden. Oder nie. Im Geheimen formen sich viele große Ideen, kann Kreativität wachsen, entwickeln sich Charaktere, im Geheimen werden Terrortaten ebenso ausgedacht wie Geständnisse der großen Liebe vorformuliert. Für manche Menschen öffnen sich hier die Tore zur Einsamkeit, für andere ist gerade dieser Schatten, der auf vielem ruht, eine der größten Herausforderungen des Daseins. Die Liebe dann ein Hort gemeinsamer Geheimnisse. Für viele beginnt hier Glauben, andere reagieren mit Verdrängung, wieder andere mit schlichtem Akzeptieren, dass es im Leben und in der Gesellschaft neben dem streng Öffentlichen auch immer das streng Geheime gibt. Für all dies gibt es Momente der Selbstvergewisserung, die aus dem Geist und Gefühl hin zum Wort finden, seit Jahrhunderten in Büchern, oft in Tagebücher. Das kommunizierte Geheimnis ist kein Geheimnis mehr.
Hier begann und beginnt oft das Tage- oder Gedankenbuch, Hort eben dieser unteilbaren Gefühle, Gedanken, Träume und Erlebnisse. Oder aber die schriftliche Fixierung der alltagskulturellen Kleinigkeiten, über die dann später das große Ganze aufscheinen kann.
Es geht hier in keiner Weise um die Ablehnung und Verteufelung der neuen digitalen Logbücher im Internet. Schließlich schreibe ich auch hier in einem Blog. Es geht schlicht um eine saubere Trennung zwischen einem Ich und Wir, einer persönlichen, unteilbaren Selbstaufzeichnung und einer Aufzeichnung des Persönlichen im Netz, um der keiner nur wenigen Personen mitteilbaren Gefühlen einen geschützten und löschbaren Raum zu geben. Eben das ist im Netztagebuch nur schwer möglich. Das kennt jeder, der einmal seinen Facebookauftritt tilgen wollte oder die Datenspuren, die Dritte über uns sammeln und von denen wir nichts wissen oder ahnen.
Das Problem gilt allerdings auch für die Tagebücher eines Lebens, die genau auf der Schwelle dessen sind, das Kinder oder Nachkommen zwar einmal neugierig macht, sie es vielleicht lesen, aber dann meist weder Lust noch Platz haben, die Spuren eines Lebens zu bewahren bis in die Zukunft folgender Generationen.
Und dennoch. Auch oder grade weil wir unserer eigenen Vergänglichkeit bewusst sind, auch wenn das gelebte Leben verweht, lohnt sich die Anstrengung sowohl eines persönlichen wie öffentlichen Logbuches als Form der Selbstvergewisserung seiner selbst oder die formulierten Gedanken für die Unendlichkeit digitaler Verbreitung.