Wir alle leben vom Zufall. „Was wäre, wenn…“ sind Gedanken eines jeden Menschen, denn nur die Zufälle auf der langen Lebensschnur von der Geburt bis zum Tod machen Leben individuell und einzigartig. Es sind die unwegsamen, nicht vorhersehbaren Möglichkeiten des Seins. Gerade dieses Imponderabilie  kann  Angst machen, aber sie sind eine der Grundlagen des Daseins, diese Weichen der Möglichkeiten,  denn was wäre das Leben, wäre alles schon vorhersehbar, was ohne die immer neuen Zufälle?

Der Zufall ist ein durchgängiges Lebensthema des amerikanischen Autors Paul Auster, so z.B. in seinem 2012 erschienenen Roman : Die Musik des Zufalls. Diesem Thema widmet sich der Autor auch in seinem 2017 erschienenen (Meister)Werk „4321″, das man getrost als Lebenswerk und ganz große Literatur bezeichnen darf und das er selbst als „Buch meines Lebens“ nennt. Sieben Jahre lang hat er an diesem Roman gearbeitet, bei dem immer wieder auch autobiographische Momente durchscheinen und den er sich zum 70. Geburtstag und uns, dem geneigten Leser und der Leserin, geschenkt hat.

Es sind auf den fast 1300 Seiten eigentlich 4 Bücher erschienen, denn es werden parallel vier verschiedene Leben eines einzigen Protagonisten erzählt, die alle durch unterschiedlichste Zufälle anders verlaufen und entsprechend zwar alle von einem Punkt aus starten, aber viermal anders enden.  Vier Lebensverläufe so lebensnah und detailliert in sieben Kapiteln nebenander erzählt, dass der Leser selbst bei mittlerer Intelligenz und hoher Konzentration es mitunter schwer hat, die vier verschiedenen Lebenswege auseinanderzuhalten und manchmal fragt man sich tatsächlich: In welchem der vier Leben befindet man sich im Moment, in dem eben dies und später jenes passiert.

Das Buch fängt schon mit einer kleinen, wunderbaren Geschichte um den Namen des Protagonisten Archie Fergeson an. Denn der Familienlegende zufolge verließ sein Großvater, ein Jude mit dem schrecklichen Namen Isaac Reznikoff, zu Fuß seine Heimatstadt Minsk und kommt schließlich mit dem Schiff Kaiserin von China genau am ersten Tag des zwanzigsten Jahrhunderts in New York an. Ihm wird  geraten, sich doch Rockefeller zu nennen, denn der Name Renzikoff werde ihm in Amerika nichts nützen: „Eine Stunde verging, und als der neunzehnjährige Rezikoff endlich bei dem Einwanderungsbeamten an die Reihe kam, hatte er den Namen, zu dem der Mann ihm geraten hatte, längst wieder vergessen. Ihr Name ? fragte der Beamte. Der müde Einwanderer schlug sich verzweifelt an die Stirn und platzte auf Jiddisch heraus: Ich hob fargessen! Und so begann Isaac Renzikoff sein neues Leben in Amerika als Ichabod Fergeson.“

So begleiten wir seinen Enkel Archie Fergeson nun durch seine vier möglichen Leben, die durch die Fülle der Zufälle sich alle anders entwickeln, wobei natürlich die Herkunft, die Familie, die Kindheit usw. erhalten bleiben. In einer Geschichte ist Archie ein Poet, der unsäglich verliebt ist in seine Cousine Army und der dem Charme von Paris erliegt (wie Paul Auster selbst ja auch). Ein anderer Archie stirbt schon früh (da hört natürlich Buch 2 schon auf), ein weiterer ist homophil, in der nächsten Geschichte ist Archie sehr hungrig auf Frauen, mal ist er arm, mal reich, mal gesund, mal hat er durch einen Unfall zwei Finger verloren  usw.

Alle vier leben und erleben sich im Nachkriegsamerika der 50er und 60er Jahre, diesem turbulenten Land zwischen kommerziellem Aufbruch und politischem Auffuhr der 68er. Die vielen kleinen und großen Geschichten werden erfrischend locker, z.T. mit hohem Grad an Witz und Tiefe gleichermaßen erzählt, sodass der Leser und die Leserin sich gut mitreißen lassen können von den vielen Zufällen, die die vier Leben des einen Protagonisten ausmachen.

Allerdings bettet Auster seinen Archie derartig intensiv auch in die Zeitgeschichte dieses Amerika der Kubakrise, die Ermordung des JF Kennedy und Martin Luther King, des Vietnamkriegs, Andy Warhol usw. ein, dass man manchmal denkt, man sei in einem geschichtlichen Bildungsroman und an den Stellen ist sicher mancher Leser verführt, solche seitenlangen Geschichtsgeschichten einfach zu überspringen, gespannt auf die weiteren daraus entstehenden Zufälle (die man natürlich nur nachvollziehen kann, wenn man sich auf die ganze Geschichte einlässt).

Am Ende wird einer der vier Fergesons selbst zum Autor seines eigenen Buches. Protagonist Fergeson und Paul Auster sind nun eins und beschreiben, wie sie das vorliegende Buch geschrieben haben:  „So endet das Buch – mit Ferguson, der weggeht, um das Buch zu schreiben“, dem sein Roman über die vier Fergesons viel länger anwuchs, als er gedacht hätte: „Als er am 25. August 1975 das letzte Wort schrieb, hatte das Manusript einen Umfang von eintausenddreihundertdreiunddreißig getippten Seiten mit doppeltem Zeilenabstand.“

Und auf den letzten Seiten schließlich schaut man noch tiefer in die Gefühlzustände des Autors, wenn er schreibt: „Die Passagen, die zu schreiben ihm am schwersten fielen, waren diejenigen, die vom Tod seiner geliebten Jungen erzählten.“ Hier meint man, neben ihm am Schreibtisch zu sitzen und die Qualen und die Freude des Romanschreibens förmlich mitzuerleben, wenn er vom Schreibtisch aufsteht, sich aus der Hemdtasche eine Zigarette zieht, um sich vor dem Schreiben der letzten Absätze des Buches noch eine Pause zu gönnen….

Von der Idee, vom Aufbau, von der Sprache, den Geschichten und der Genauigkeit des geschichtlichen Hintergrunds in den 50er und 60er Jahren ein faszinierendes Buch. Der Kurat wünscht Paul Auster zu seinem 70. Geburtstag und gleichsam auch für das Geschenk dieses Buches an uns den herzlichsten Glückwunsch und Dank!

Anmerkung : Das Buch hat Paul Auster seiner Ehefrau, Siri Hustvedt gewidmet, eine der Lieblingsschriftstellerinnen des Bloggers. Sicher wird er in anderen Beiträgen noch ihre Bücher wie „Was wir liebten“ oder „Die zitternde Frau“, vor allem aber auch “Leben,Denken,Schauen” beschreiben”.

Paul Auster / 4321 / Roman/ 2017 / 29,00 € / Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg / ISBN 978 498 00097 4