Natürlich kennen wir alle Entschleunigung, Achtsamkeit, Nachhaltigkeit – Begriffe, die in jedem Ratgeber zum besseren Leben vorkommen. Und die wir uns immer wieder vornehmen.

Ebenso wissen wir, dass durch die Entwicklung der Mobilität, wie z.B. der Eisenbahn oder der Dampfmaschine, unser Leben immer schneller geworden ist und an Beschaulichkeit verloren hat. Eine Beschleunigung des gesamten Lebens, die Sloterdijk die „selbstgezündete Selbstbewegung“ nennt .(Sloterdijk, P. Neuzeit als Mobilmachung) Dieses Tempo des Lebens und das spezielle Verhältnis zur Zeit wurde in Europa in Gang gesetzt und hat sich verselbständigt bis heute: “Nicht Sorglosigkeit den Stunden und Jahren gegenüber bestimmen das Zeitgefühl, sondern das Geizen damit – und weil man vom Ende weiß, ein Geizen bis in die Sekunden“. (Wehmeier, G. prestißißimo)

Weniger bekannt ist, dass dieses lineare, auf ein Ziel gerichtete Zeitgefühl schon im Mittelalter durch die Trennung von Kirchenzeit und Wirtschaftszeit entstanden ist. Denn während die Mönche in den Klöstern ihren Tagesablauf noch durch Gebetsstunden fixierten und die Menschen außerhalb der Kirchen ihren Tagesablauf lebten noch ohne nach Stunden und Minuten zu rechnen, gab es plötzlich eine neue Notwendigkeit. Sowohl der Handel als auch die ersten Manufakturen benötigten präzisere Zeitbestimmungen, um sich zu organisieren. Und die beginnende industrielle Revolution schließlich benötigte eine Synchronisierung der Arbeit. Aus der temps de l´eglise wurde zusehends die temps du marchand, also Kirchenzeit gegen Wirtschaftszeit.  Während man in den Klöstern (bis heute) Zeit noch als etwas von Gott geschenktes definierte, das man nicht gegen Geld verkaufen kann, wurde die Wirtschaftszeit zusehends zur Kopplung von Zeit und Geld.

Bedenke, dass Zeit auch Geld ist“  formulierte dann Benjamin Franklin 1748 treffend, ein Satz, der uns heute so selbstverständlich in Fleisch und Blut übergegangen ist wie z.B.: “Geld allein macht nicht glücklich“ (aber es beruhigt). Neben das Rechnen mit Geld setzte sich das Rechnen mit Tagen, Stunden, Minuten durch, vor allem durch den Bau von Uhren ebenso messbar wie den Bau von Rechenmaschinen. Beides bestimmt unsere Alltags- und Arbeitskultur bis heute.

Lewis Mumford formuliert es so: “Die Uhr, nicht die Dampfmaschine, ist die Schlüsselerfindung für das moderne Industriezeitalter. Die Uhr ist eine Art Kraftmaschine, deren Produkt Sekunden und Minuten sind: Durch ihr eigenstes Wesen trennte sie die Zeit vom menschlichen Erleben und half, den Glauben an eine unabhängige Welt mathematisch messbarer Folgen zu schaffen: Die besondere Welt der Naturwissenschaften“.

Hinzu kam im Mittelalter der Begriff des „Berufes“, der – von Gott gegeben (Berufung) – das Umgehen mit Zeit ebenfalls diametral änderte. Steht der Beruf als eines der zentralen Merkmale des Daseins im Mittelpunkt, bedeutet dies, dass Zeitvergeudung und Zeitverschwendung eines der schwersten aller Sünden ist, z.B. „Geselligkeit, faules Gerede untätige Kontemplation und mehr als sechs bis acht Stunden Schlaf. Jede vertane Stunde geht dem Dienst Gottes verloren“. (Weber, M. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus)

Noch strenger sahen das die Pietisten. Sie empfahlen religiöse Tagebücher zu führen, in denen man sich selbst und Gott gegenüber Rechenschaft geben sollte, wie die Zeit ausgenutzt wurde.

Bis heute gilt für viele: wirtschaftlicher Erfolg, letztendlich Reichtum, ist der Lohn für den gewissenhaften Umgang mit der Zeit. Wer die Uhr hat, hat die Kontrolle. Hat letztendlich das Geld als Grundlage für Existenz.

Und noch heute haben Begriffe wie „Faulheit“, „Müßiggang“, „Nichtstun“, “Beine hochlegen“, „Chillen“ dann einen faden Beigeschmack, wenn sie nicht in Verhältnis zu einem produktiven Prozess gesehen werden. Die Wellenessoase nur nach getaner Arbeit.

 Der wirtschaftliche Prozess ist das willigste Medium, das eigenmächtige Movens und der vielseitigste Komplize der jahrhunderteübergreifenden Selbstmobilisierung“, formuliert Peter Sloterdijk etwas kompliziert aber wahr und weiter: “Aus der Allianz von selbsterzeugender Selbsterhaltung, Gewinnstreben und Wettlauf entsteht die explosive Motivmischung, die der Modernisierungsbewegung den Schub verleiht“. Und da sind wir wieder am Anfang des kleinen Beitrags, nämlich der „selbstgezündeten Selbstbewegung“. (Sloterdijk, P. ebenda)

Interessant übrigens, dass gleichzeitig mit dem legendären Satz Franklins von Zeit als Geld Jean Rousseau (1712-1778) eine massiven Kritik hieran formuliert. Diese mutet an, als wäre sie heutzutage aus einem der oben erwähnten Ratgeber für ein besseres Leben formuliert:

Ich würde jeden Tag für sich selbst genießen, unabhängig vom vorhergehenden und vom folgenden. Ausschließlich mit dem Ziele beschäftigt, nach welchem sie streben, schauen die Menschen mit Bedauern auf den Zwischenraum, der sie von demselben trennt. Niemand will für heute leben, niemand ist mit der Minute, in der er lebt, zufrieden, allen scheint sie zu langsam dahinzuschleichen. Wenn sie sich beklagen, daß die Zeit zu schnell dahineile, so sprechen sie eine Lüge aus. Sie möchten gern alles dahingeben, wenn sie dafür die Fähigkeit erlangen könnten, den Lauf der Zeit zu beschleunigen.“

Wie gesagt: “Man soll nicht Zeitvertreib sagen, sondern Zeitgenuss“  (Jean Paul)

Bild/Text C Michael  Troesser