Was sind heute, im Zeitalter der hunderten von „Freunden“ im Netz, der Sportsfreunde, der Zweckfreundschaften, der Geschäftsfreundschaften, Völkerfreundschaften noch „normale Freundschaften“? Sind der „beste Freund“, die „Busen- oder dicke Freunde“ oder „Freundschaft fürs Leben“ immer noch das, was sie einmal waren? Was machen solche Freundschaften aus? Wann wird eine Kameradschaft oder eine Bekanntschaft zur Freundschaft, ein Kumpel zum Freund? Was sind „falsche Freunde“ und worin unterscheidet sich Freundschaft von Liebe?
Eine Definition hierzu ist nicht einfach, grade wegen der vielen Facetten, Möglichkeiten und Unterschiede. Viele Übergänge dabei sind sicher fließend, doch lassen sich für manche verschiedenen Formen der Nähe oder Distanz einige Kriterien formulieren. Bei dieser kleinen Betrachtung werde ich mich beschränken auf den „besten Freund“ oder „die beste Freundin“, auch in Abgrenzung oder Überschneidung zur Liebe.
Schwierig ist das Thema allein schon deshalb, weil es auch sprachliche Probleme gibt. Denn viele Formen der Beziehungen zwischen Menschen lassen sich auch verbal darstellen: „Ich liebe Dich“, „Ich hasse Dich“, „Ich vermisse Dich“,„Ich begehre Dich“ – warum nicht auch: „Ich freunde Dich“ ? Anders als bei einer Bekanntschaft (z.B. Kumpel, Kameradschaft) und unterschiedlichen Formen der Liebe bedeutet Freundschaft eine besondere Form der Nähe, eine Art Seelenverwandtschaft (Warum nicht: „Seelenfreundschaft“?)
Um besser zu verstehen, was Freundschaft bedeutet, hilft uns ein Blick auf kleine Kinder und deren frühe Freundschaften. Denn Kinderfreundschaften entwickeln sich zu dem Zeitpunkt, wenn das Kleinkind den Schutzraum vor allem der Mutter verlässt (und damit auch die sgn. “Übergangsobjekte“ wie Knautschtiere, Puppen, Nuckel usw.). Plötzlich wird das kleine Kind mit einer unbekannten, hellen Welt konfrontiert, die zuerst einmal Angst macht (vergleichbar mit der Geburt, bei der das kleine Wesen den wärmenden, dunklen, sicheren Mutterleib verlassen muss und in eine helle, kalte Welt gezogen wird.)
Doch dann merkt das kleine Kind langsam, dass es nicht alleine ist, dass da ein anderer kleiner Mensch ist (meist übrigens gleichgeschlechtlich), der ähnlich empfindet: “Durch innere Nähe und Vertrauen lockert sie die Bindung ans Elternhaus, kompensieren familiäre Defizite, fördern den schrittweisen Übergang zur Außenwelt und bewältigen durch gemeinsames Handeln Gefahren“, so der Berliner Neurologe, Kinder- und Jugendspsychiater sowie Psychoanalytiker Horst Petri.1)
Hier also die erste Annäherung an eine Definition von Freundschaft, die ähnlich auf Jugend- und Erwachsenenfreundschaften übertragen werden kann, nämlich: “Das glückliche Wechselspiel verwandter seelischer Kräfte, deren Anziehung das Einzigartige jeder (Kinder)Freundschaft ausmacht“.2)
Denn ebenso wie beim Kind liefert uns der Freund die Freundin ein „Gefühl vollkommender Ruhe und Gelassenheit vor den Unwägbarkeiten und Katastrophen der Welt und Zukunft“.3)
Plötzlich merken zwei Menschen, dass ein anderer Mensch auch aus ähnlichen Augen sieht, gleiche Gefühle hat, was als eine wunderbare Form grenzenloser Freiheit empfunden werden kann. Mit dem man weinen und lachen kann gleichermaßen in einem Kokon eigener Geheimnisse, den man nie in gleicher Form und Authentizität mit einem weiteren Menschen teilen kann.
Oft kann einem nur noch ein Freund oder die Freundin helfen, als Kenner unserer unergründlichen Tiefen und Widersprüche, der oder die Seiten im Freund oder Freundin so spiegeln, wie er sie selbst noch nicht gesehen oder empfunden hat. So ist der Freund also der, mit dem man einen Part seines Seins teilen kann oder, wie vielfach formuliert, als „wäre er ein Stück von mir selbst“. Ob Männer-, Frauen- oder gegengeschlechtliche Freundschaft: Jede einzelne hat ihre eigene Qualität, ihre eigene Geschichte oder Problematik und gerade diese verschiedenen Formen machen ihren Reiz aus. Ein Freund lässt sich nicht ersetzen, weil sich die gemeinsame Geschichte und die gemeinsam gelebten Gefühle nicht ersetzen lassen. So ist Freundschaft eine ganz besondere Form der Nähe, eine ganz eigene Form des Reizes, eine Heimat der Seelen im Wir.
Bis dahin ist es allerdings meist ein langer Weg, in dem das andere Du sich in einem selbst langsam aufbaut, wächst, Vertrauen und Wertschätzung ermöglicht, durch die man einen Teil seines Lebens teilen kann, der sonst für keinen oder nur wenige zugänglich ist, als ein „lebensnotwendiger Bestandteil unseres Daseins“ .4)
Und die Liebe, dieses durch Eros geprägte Vertrauen und bedingungslose Zerfließen in einem WIR? Aber ist diese Verschmelzung in Liebe unter der Prämisse Eros und Sexualität tatsächlich so bedingungslos wie bei einer Freundschaft?
Natürlich sind Sehnsucht nach Liebe und Sehnsucht nach Freundschaft keine Gegensätze, sondern ergänzen sich einander. Vieles teilt man mit dem Geliebten, anderes mit der Freundin. Beides sind Möglichkeiten, Einsamkeit zu überwinden, beides wunderbare Chancen, sich einem Du zuzuwenden, beides verschiedene Formen des Glücks mit einem Du. Freundschaft wie Liebe sind ein hohes Gut, beides muss gepflegt werden, um nicht zu verdorren, beides muss gelebt werden, ist oft anstrengend und (dadurch) beglückend zugleich. An beidem kann man leiden, zerbrechen und wachsen.
Allerdings wird dadurch, dass kein emotionaler Druck oder z.B. sexueller Anspruch entsteht, Freundschaft oft freier empfunden als die noch so tiefe Liebe. So erklärt sich z.B. das Phänomen, dass nach (langer) Ehe und Scheidung zwei Menschen plötzlich freier und gleichsam tiefer das Wir miteinander teilen, als es im Innen-und Außendruck einer Ehe und ihrer anspruchsvollen, fordernden, fragilen Sexualität möglich war.
Aus dem Satz am Ende der Liebe: „Komm, lass uns gute Freunde bleiben“ entsteht oft eine ganz neue Form der Nähe auf der Grenzlinie zwischen vormaliger Liebe und zukünftiger Freundschaft. (Übrigens erklärt das auch, warum viele Frauen auch homosexuelle Männer schätzen oder sich als Freund wünschen.) Einfacher als bei Liebe kann man bei Freundschaft auch nach langer Zeit meist unhinterfragt den Faden der gemeinsamen Geschichte wieder aufnehmen.
Sicher kann auch Eros Einzug halten in dieses freundschaftliche Wir, dann allerdings verliert Freundschaft ihre jungfräuliche Nähe. Über kaum ein Thema im Kontext von Freundschaft ist so viel geschriebene worden wie über gegengeschlechtliche Freundschaft. Der meist zitierte Satz in dem Zusammenhang stammt aus dem Film “Harry and Sally“,(1989) bei dem sich zwischen Harry und Sally über Jahre eine tiefe Freundschaft entwickelt, bei dem letztendlich Harry dann doch den Satz formuliert: “Männer und Frauen können niemals befreundet sein – der Sex kommt immer dazwischen.“
Ob das wirklich so ist, sei dahin gestellt. Das Thema ist dann wieder eine andere Geschichte.
Und was ist nun die Freundschaft letztendlich?
Freundschaft ist eine übereinstimmende Schnittmenge von Gefühlen, die auch heftiges Streiten zulässt, weil das gegenseitige Vertrauen ein sicheres Netz darstellt.
Aber Freundschaften sind ebenso wie Liebe nicht sicher vor Krisen, tiefen Zerwürfnissen, verzweifelnden Momenten und hoffnungsloser Einsamkeit. Gerade wegen des entgegengebrachten Vertrauens sind Freundschaften so filigran wie die Liebe, wenn man sich nicht mehr sicher ist, wenn die Zuneigung und das Vertrauen erkalten und die Nähe schleichend in Distanz übergeht, bis hin zum Bruch der Freundschaft.
Dann bleibt nur noch eins: Ein neuer Mensch, der einem begegnet und dem man nach einiger Zeit sagen kann: „Ich freunde Dich“ und „Du freundest mich“.
Doch keine neue Freundschaft ist wie die vorherige. Das ist Schmerz und Chance zugleich. Und auf dem Hintergrund dieser emotionalen Nähe und Exklusivität, muss der Begriff „Freundschaft“ bei den 100 Freunden bei Facebook oder wo auch immer doch sehr in Frage gestellt werden.
Anmerkungen:
Zitate 1-4 aus Horst Petri „Der Wert der Freundschaft – Schutz, Freiheit und Verletzlichkeit einer Beziehung,“ KREUZVERLAG 2005
Copyright Text und Bilder Michael Troesser